Kunststoffexpertise, Materialforschung und partizipative Kunst im Havelörtchen Strodehne mit dem Künstlerkollektiv landmade

Nicht nur Träume sind aus Stoffen gemacht. Auch Gesellschaften bilden sich in Geflechten und Geweben aus materiellen und immateriellen Fäden: Glaubensannahmen, Wissenssystemen, individualisierten Begehren, Übertragungsmedien, Bürokratien, Raumordnungen und Architekturen, Bewegungsanweisungen, Kleiderordnungen. Die buchstäbliche Beantwortung der Frage, aus welchen Stoffen unsere Gesellschaft gewebt ist, erscheint nur der metaphorischen Alltagsrede beliebig. Für materialistisches Nachdenken bildet sie einen wesentlichen Ausgangspunkt, der zu den textilen Zusammen- hängen führt, in welchen die Menschen sich kleiden, wohnen und agieren. (…)
In der heutigen industriellen und »petromodernen« Gesellschaft sind diese gesellschaftsbildenden Materialien zu großen Teilen »künstlich« hergestellt, das heißt, sie haben ihren Ursprung in chemisch-industriellen Verfahren; auch wenn man ihnen das oft nicht mehr ansieht. (…) Sogenannte Kunststoffe auf Basis verschiedener pflanzlicher Stoffe, wie Schellak, Zelluloid oder Bakelit hatte es bereits früher gegeben. Doch mit dem Durchbruch der petrochemisch-industriellen Verfahren im und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zügig so ziemlich alle erdenklichen Oberflächen und Gegenstände aus Plastik nachgebildet, von Plastik durchwirkt, mit Plastik überzogen oder gleich komplett aus Plastik neugeschaffen. Sie schufen wesentlich, was man als die »zweite Natur« der Petromoderne bezeichnen könnte. Auch heute noch bilden aus Erdöl oder -gas gewonnene chemische Verbindungen wie Ethylen und Propylen die Grundlage von 99 Prozent der im Umlauf befindlichen Kunststoffe.
Ein vor allem im Hinblick auf seine gesellschaftlichen Wirkungen nicht unerheblicher Teil dieser Kunststoffe wird zu neuen Geweben und nachgebildeten Häuten, zu Polsterungen, Hüllen und Verkleidungen, aber auch zu Zug- und Bindematerialien, kurz: zu dem, was man mit Semper das Textile, oder, etwas ausführlicher, das heutige textile Dispositiv nennen kann: die Gesamtheit der durch Anordnungen des Textilen erzeugten oder getragenen gesellschaftlichen Handlungsspielräume. Eine Vielzahl dieser Materialien und der mit ihnen verbundenen Geschichten und Versprechen finden sich in dem Schnitt durch die materialgeschichtliche Gegenwart, den das Seilprojekt in Strodehne im Spätsommer 2021 vornahm.
(Auszug aus dem Text »Im Seil« von Alexander Klose aus der projektbegleitenden Publikation wahrsager N°5/2022, Das Seil von Strodehne, hg. v. landmade. Der vollständige Text kann hier abgerufen werden.)
Im Seil von Strodehne sind Materialien und Geschichten miteinander verdreht. Die kollektive künstlerische Aktion involvierte mehr als 100 Dorfbewohner*innen, die als persönliche Beiträge 50 Stränge aus unterschiedlichen, überwiegend textilen Materialien einbrachten. Sie begann im Frühsommer 2021 mit Exkursionen zu (ehemaligen) Orten der Kunststoff-Industrie und der Nähmaschinen-Herstellung und zwei Workshops in Strodehne. Die kollektive Seilaktion fand von August bis Anfang Oktober 2021 statt. Eine Dokumentation aller Ereignisse und im Rahmen der Aktion entstandenen Arbeiten findet sich hier.
Aus der Analyse der ins Material eingedrehten Stoffe und Geschichten entstand im ersten Halbjahr 2022 die o.g. Publikation, die am 11. November im temporary bauhaus-Archiv mit einer weiteren kollektiven Aktion und einem Gespräch der Öffentlichkeit präsentiert wurde.
Parallel dazu gab es eine Reihe von Zoom-Gesprächen zu verschiedenen Aspekten des Seil-Projekts. Zum 2. Novemberzoom waren Alexander Klose, die Materialforscherin und Textildesignerin Essi Glomb und der Wissenschaftsjournalist und Strodehne-Bewohner Richard Friebe zu einem Gespräch über die Bedeutung der Material-Zusammensetzung des Seils eingeladen und stellten sich folgende Fragen:
Was kommt durch die Materialien im Seil zum Ausdruck, an Persönlichem, an Gesellschaftlichem?
Was sagen textile Materialien generell über ihre Zeit und deren Menschen aus?
Gibt es eine textile Gesellschaftstheorie?
Und was macht man mit so einem symbolisch hochverdichteten aber in seiner Funktion unbestimmten Objekt wie dem Seil von Strodehne, das aus dem „Textilen“ in die Kunst gewandert ist?
Ein paar mehr Infos zu den Zoom-Gesprächen gibt es hier.
