Das
Buch ist vieles in einem: historisches und geografisches Sachbuch,
kulturtheoretischer Essay, Bilderbuch. In dreiundvierzig, von ebenso
vielen Bild-Fundstücken inspirierten Kapiteln, entwickeln wir ein
technisches, geografisches, politisches und spekulatives Panorama der
sich neigenden Erdölmoderne.
Wir schlendern nach Baku, Louisiana, in die Mandschurei und durchs
Wiener Becken. Wir lesen Karl Valentin, technische Handbücher und hören
Neil Young. Es geht zum Mond, durch Raffinerien und über corona-leere
Highways. Wir verknüpfen Petrochemie mit Petromelancholie, Katalyse mit
Katharsis, Kosmos mit Kosmetik. Es geht um die Abgründe und Höhenflüge
eines Stoffes, der unsere Epoche in all ihren Widersprüchen durchzieht,
und dessen Rolle für unsere Gegenwart wir verstehen sollten, um ihn dann
hinter uns zu lassen.
»Den „Atlas der „Petromoderne“ stelle man sich vor, als wäre er gerade aus einer Öllache gezogen worden, mit der Klebrigkeit seiner pechschwarzen Oberfläche, die nur auf den Lettern des Buchtitels abperlt.«
»So erweist sich das Ganze auch als kommentierte Ikonografie eines problematischen Schmiermittels der Gegenwart.«
»Heute gehört der französische Wissenschaftshistoriker Bruno Latour mit seiner »Akteur-Netzwerk-Theorie« (ANT) zu den bekanntesten Kritikern der Petromoderne. Für Latour gibt es keine ökonomische Utopie mehr, nur noch eine ökologische. Nicht trotz, sondern wegen Klimaerwärmung, Bienensterben und Artensterben, radioaktiver Verseuchung und Überfischung der Meere, Humusverlust und Verwüstung der Erde.»Heute gehört der französische Wissenschaftshistoriker Bruno Latour mit seiner »Akteur-Netzwerk-Theorie« (ANT) zu den bekanntesten Kritikern der Petromoderne. Für Latour gibt es keine ökonomische Utopie mehr, nur noch eine ökologische. Nicht trotz, sondern wegen Klimaerwärmung, Bienensterben und Artensterben, radioaktiver Verseuchung und Überfischung der Meere, Humusverlust und Verwüstung der Erde.
2020 erschien ein »Atlas der Petromoderne«. Er behandelt die Petromoderne bereits als eine abgeschlossene Ära, seine Autoren, die Kulturwissenschaftler Alexander Klose (Berlin) und Benjamin Steininger (Wien), bereiten daneben seit 2017 eine Retrospektive dieser Ära im Kunstmuseum Wolfsburg vor: »Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters«. […]
»Gäbe es eine Brille, mit der man die Geschichten sehen könnte, die hinter den Stoffen stehen, und würde man diese Brille auf die Wirkung der industriellen Katalyse einstellen – man käme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Fast in jedem Bereich des Alltags sähe man Stoffe, die es bis vor gut 100 Jahren so nicht gab und die seither die Moderne prägen.«
Öffentlicher Vortrag der Klasse Klima, UdK Berlin, mit Alexander Klose
Die Petromoderne ist die durch Kulturtechniken des Erdöls und anderer fossiler Ressourcen geprägte Kultur unserer Zeit. Gehen wir davon aus, dass es mit ihr ein baldiges Ende hat. Was wird von ihr bleiben? In welchen Formen wird sie explizit und implizit weiterleben? In welchen Formen wird man sich zukünftig auf sie beziehen?
Der Kunsthistoriker Aby Warburg hat für das Überdauern antiker und archaischer Bildprogramme in der Kunst der Neuzeit den Begriff des Nachlebens geprägt. Dieser Sicht zugrunde liegt die Vorstellung von einer evolutionären Kulturentwicklung. Der Vorteil einer solchen Auffassung von Kulturgeschichte liegt aus heutiger Sicht darin, dass sie es erlaubt, kultur- und naturhistorische Phänomene analog zu behandeln. Denn eine der zentralen Erkenntnisse des Anthropozän-Denkens besteht darin, dass die lange für unser Weltbild konstitutive, grundsätzlich Trennung zwischen “Natur”- und “Kultur”- Machen weder ethisch noch im Lichte wissenschaftlicher Erkenntnisse noch haltbar ist.
Die manifest materiellen Hinterlassenschaften der Petromoderne – die Hinterlassenschaften von Tankerhavarien, geplatzten Pipelines, zerstörten Bohrplattformen, von gigantischen Verkehrsinfrastrukturen, vor allem aber CO2 und Mikroplastik – werden für Jahrtausende in den Ozeanen, in der Atmosphäre, auf der Erdoberfläche und in den Böden verbleiben. Sie werden die Biosphäre des Planeten nach menschlich-historischen Maßstäben für eine signifikant lange Dauer verändert haben. Wie aber steht es mit den weniger materiellen kulturellen Elementen unserer Zeit, den Verhaltensweisen, sozialen Organisationsformen, Glaubens- und Begehrensstrukturen? Wie wird man sich auf sie zukünftig beziehen? In welchem Verhältnis stehen sie zu den Monumenten petrochemischer Produktion und Mobilität und welche Rollen könnten diese spielen?
Anhand existierender Beispiele für petromoderne Kulturerbestätten und anhand der Entwürfe der Teilnehmer*innen der Klasse Klima diskutiert Alexander Klose in seinem Vortrag Szenarien zukünftiger Erinnerungs- bzw. Verdrängungskultur.
Am 4.12.2020 eröffneten – coronabedingt ohne jegliche festliche Aktivitäten – nach vielen Jahren Bauzeit die neuen U-Bahnstationen der vom Alexanderplatz bis zum Hauptbahnhof Berlin verlängerten U-Bahnlinie 5. Auf dem Bahnsteig der Station Unter den Linden bietet sich den Fahrgästen ein ungewohntes Bild. Statt Werbung zeigen die Bild- und Texttafeln hinter dem Gleisbett “anthropozäne Umwelten” wie Atmosphäre, Eis, Feld&Fabrik, Stadt, Ozean oder Wald&Boden und dazu gehörige Namen und Begriffe. Für Petrokulturforscher alte Bekannte tauchen dort auf, wie das freundliche Carbon Atom mit den vier verbindungsfreudigen Armen aus einem US-amerikanischen Industriefilm von 1946, das über einer Pipeline tanzt, oder die in Planquadrate unterteilte Sokkelkart des norwegischen Kontinentalschelfs, auf der 1965 erstmals die Gebiete für zukünftige Erdölexploration eingezeichnet und festgelegt wurden.
Das ist kein Zufall, denn Konzept und Gestaltung des U-Bahnhofs entstand aus einer Zusammenarbeit von Daniel Schiel von Schiel Projekt, Gunnar Green von TheGreenEyl, der Illustratorin Nele Brönner, die die Wimmelbilder zeichnete, und Alexander Klose von Beauty of Oil (und in diesem Fall: Büro für prekäre Konzepte), der für Recherche und inhaltliche Konzeption hauptverantwortlich war.
Eine vertiefende Einführung in die Grundsätze der Gestaltung und Hintergrundinformationen zu bislang drei der vielen auf den Wimmelbildern gezeigten Elemente anthropozäner Umwelten gibt es auf der Open Humboldt-Website.
Interview mit Alexander Klose über Bahnhof der Wissenschaften hier.